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Fahrt von Tegernsee nach Kreuth 1925

 

Noch nie habe ich den Tegernsee so tief-tintenblau, so Achensee-ähnlich gesehen als damals im Januar bei der Einfahrt nach Gmund. Er war wie ein blitzendes Becken, auf dem die Sonne tausend silberne Tänze aufführte. Auf dieser blauen Bahn zogen die kleinen, schwarzen, weißschnäbligen Tuck-Antl im Delta dahin. Dieser Winter sieht sich an wie ein gefrorener Herbst. Die Wiesen sind blank und braun, vom Reif verbrannt, auf den Bergen liegt eine dünne Schneedecke, aber sie schaut wie eine Täuschung aus, wie ein Betrug der Natur, und so ist eigentlich Winter nur auf Ruf und Widerruf. Auf dem Risserkoglgrat ist ein Insektensummen wie in heißen Sommern. Die wilden Waldwespen sind harb und verfolgen brummig den achtlosen Bergwanderer, der in ihr Bodennest tritt. In der Dusl-Au unterm Leonhardstein ist die laue Luft erfüllt vom schällenden Gesang aller Waldvogelarten. Der Hirsch steht noch hinten im Berg, die Gams wechselt zwischen Kar und hohen Grasbändern; da hat der Wind den Schnee gefegt; da fühlt sich das Scharl wohl und läßt sich vom Föhn durch den Bart fahren, daß es den weichen, seidigen Wachler aufhebt. Ein strammer Winter wäre mir lieber gewesen. Im Schlitten, bei knirschendem Schnee mit Schellengeklingel in den Kreuther Winkel zu fahren, darauf hatte ich mich woltern gefreut. Die Hirschfütterung in der Langenau, zu der mich Ludwig Thoma so oft mitnehmen wollte, hätte ich gerne gesehen. Der Winter hätte ja nicht gleich so wild sein müssen wie im vorigen Jahr; da haben zweiunddreißig starke Bauernpferde den eisernen Schneepflug nicht von Kreuth bis zur Glashütte gebracht, und vor drei Jahren habe ich mich am Dreikönigstag nur mit aller Mühe zur „Schanz“ durchgeschlagen.

Bricht für Kreuth eine neue dritte Periode der Blütezeit an? Nach dieser wunderschönen Aufführung der „Heiligen Nacht“ von Ludwig Thoma (mit der Musik von Matthäus Roemer) mußte man es glauben. Ich bin dabei gewesen, als die „Leonhardstoana“ ihr Gründungsfest feierten, im Juli 1922. Der Tag wurde mit allem bäuerlichen Pomp und Gepränge begangen. Reiter sprengten auf geputzten Pferden durch das Dorf, als ob es zum Leonhardiritt ginge.
Nach zwei Jahren schon konnte der Verein ein eigenes Heim beziehen. Enter der Weißach, unter dem Hang von Riedlern, steht ein naturbraunes Blockhaus im Hölzl und heißt sich bescheiden: Die Leonhardstoana-Hütte; ist aber ein sauber geschnitztes Schmuckkastl im Innern und für aufgeschlossene Geselligkeit ein warmer, wohliger Winkel. Das getäfelte Deckengewölbe gibt dem Raum das Aussehen eines kleinen Bauerntheaters, und das soll es ja sein. Hier wollen die Kreutherer in ihrer Weise Komödiespielen, und wie glücklich und geschickt sie sich stellen, das eben haben sie mit der „Heiligen Nacht“ bewiesen.
Mich hat die Aufführung des Thomaschen Werkes, seines feinsten und zartesten Einfalles, tief im Herzen gerührt. Wenn Thoma ins „Bad“ ging, zu seinem liebsten Freund, dem Herzog Ludwig Wilhelm in Bayern, oder in die Langenau, ins Bayernalpl oder auf die Geißalm, da hat er gerne den heimlichen hinteren Weg genommen, am Willibaldhäusl vorbei über die Vogelau, um dem Gewimmel der Wagen und Menschen „auszukommen“. Dahinten gerade liegt die trauliche Hütte, in der am Sonntag zum erstenmal die Musik erklang, die Matthäus Roemer dem Gedicht seines Freundes unterlegt hat, herrliche Harmonien, die mit Thomastimmung förmlich geladen sind.

Ludwig Thoma hat dieses Werk, das er nach der Heimkehr von den Schlachtfeldern Galiziens um die Weihnacht 1915 schrieb, über alles geliebt. Er hat einmal einen dummen Frager abgefertigt, der wissen wollte, ob das Gedicht „im Sommer oder wirklich im Winter“ entstanden sei. Damals wurde er gegen seine Gewohnheit wild, und er machte seine berühmte abweisende Bewegung mit der rechten Hand (vier Finger reißen einen Halbkreis zur Daumenwurzel hin): „Dös, moan i, mirkt ma do, daß ma so was nur zu dera Zeit schreiben ko.“ Zu dera Zeit: das waren die Wochen um Weihnachten. Und den kleinen Töchtern Ignaz Taschners hat er heimlich den Text der Gesänge handschriftlich gegeben. Wie zierlich und zart waren die Blätter beschrieben! Es war zu Ostern 1917.

Noch etwas Liebes hat die Leitung des Kreutherer Festes dem Heimatdichter angetan: man hat sieben Lebende Bilder nach den Zeichnungen von Wilhelm Schulz gestellt. Wilhelm Schulz und Thoma, ein Kapitel für den Biographen! Der brave Schulz hat den Geist dieses großen Gedichtes mit seiner deutschen Seele gleich erfaßt. So sehr hat Thoma die Bilder von Schulz geliebt, daß er ihn am Ertrag des Werkes aus freiem Entschluß zur Hälfte beteiligte, was der Künstler 1921 schon wieder vergessen hatte oder noch wahrscheinlicher: er hat es in seiner Uneigennützigkeit gleich ganz überhört! Natürlich, die Bilder von Wilhelm Schulz waren stark ins Oberbayrische umgebogen. Der Stall von Betlehem war ein Holzerkobel, der Joseph ein rassiger, schwarzbärtiger Gebirgler in grauer Jägerjoppe und wollenen Schneestrümpfen, die Maria ein Bauernmädl (Tochter des Bürgermeisters) mit Schal und Fürta, und vorm Rößlwirt stand ein richtiger altbayrischer „Hausl“ im Schein der Laterne. Der Tod und der Geizkragn, der Stern von Betlehem mit dem Strahlenkranz, die Vision des Handwerksburschen, die Hütte mit der Krippe, die Anbetung des Kindes durch kleine Engel, die vom Dach des Stalles durch die Luken in andächtiger Neugier auf das Jesuskind gucken – es sind lauter starke Bilder gewesen, die das Mysterium der „Heiligen Nacht“ in rührender Innigkeit anschaulich machten. Baron Massenbach, ein hochbegabter Stuckschüler, hat die Prospekte gemalt.

Sanitätsrat Dr. May hatte die szenische Leitung: er war Intendant, Regisseur, Beleuchtungsinspektor, Inspizient und Kulissenschieber in einer Person. Seinem starken Willen, seinem Kunstsinn und seiner Opferfreudigkeit ist das Wagnis vor allem zu danken. War es wirklich ein Wagnis? Ich hatte ein wenig Angst für den Kreuther Kirchenchor, denn die Schwierigkeiten des Chorsatzes sind haarig, wie man sagt. Aber Hauptlehrer Kirchgeßner, der auch den Orgelpart am Harmonium ausführte, wurde damit in fleißiger Arbeit fertig. Dirigent war Forstmeister Thoma; er hat die Roemerische Schöpfung in starken Steigerungen zur hallenden Höhe des großen Halleluja geführt. Freilich hatte er eine bereits wohlbewährte Auswahl von Münchner Gitarristen um sich und Solisten von hohem Rang: den hellen loheren Sopran der Frau Burckhard, die Erda-Stimme der Frau Dr. Altmann, einen Alt wie Orgelton und Glockenklang. Dr. Roemer, den wir schon aus den Münchner Aufführungen kennen und einen jungen sympatischen Baß, den Forstreferendar Hugo Peißner. Hans Schinner, als Eingesessener mit den letzten Feinheiten des Dialekts bekannt, war wirkungsvoll als Sprecher.

Unter den Gästen waren die Herzoginnen Karl Theodor und Eleonore mit Mitgliedern der herzoglichen Familie von Urach – das aristokratische und das bäuerliche Kreuth bunt durcheinander, wie es ein alter und guter bayrischer Brauch ist. Das war, glaube ich, der Anfang einer neuen Zeit für Kreuth. Die erste Periode der Blüte hat mit König Max, dem „Vater“ begonnen, und sie hat sich mit Unterbrechungen fortgesetzt, bis in die Tage des Kaisers Franzl. Ich denk es noch gut, wie Franz Joseph durch Rottach nach Bad Kreuth fuhr. In vielen glänzenden Karossen kamen die Kavaliere seiner Umgebung an und alle hatten sie den Backenbart Ihres Herrn. Einer sah dem anderen gleich, aber vor dem Hause der Gräfin Larisch schied sich der Kaiser deutlich aus: da stieg er ab und die Kinder der Gräfin, alle viere, beugten vor ihm das Knie. Ich saß auf einer Gartensäule gegenüber und es kam dem kleinen Bauernbuben wunderlich vor, daß ein Mensch von Fleisch und Blut wie der liebe Gott geehrt wurde, in der großen Welt. Als ich dann später auf der lateinischen Schule lernte, daß der Kaiser von Österreich den Titel Apostolische Majestät führt, war ich mit dem Anblick versöhnt.

Die zweite Periode war kleinbürgerlicher und bäuerischer Art. Sie ist bloß mit drei Namen verknüpft, aber die Alten sagen, das sei die zünftigste Zeit in Dorf Kreuth gewesen, als der Bäck Sanktjohanser, der alte Spitzer und der Hanl-Hansä „Dorfmusik spielten“. Es war aber auch eine Gefahr; das liebe Dörfl saß in seinem männlichen Teil beim Wirt, dem Bäck sein Brummbaß ging den ganzen Tag bis der Herrgott der ewigen Gemütkichkeit eine Ende machte: den Hanl-Hansä, einen blonden bildhübschen, goldbärtigen jungen Bauern, meinem lieben Vetter und präsumtiven Firmpaten, holte er mit 30 Jahren aus dem heiteren Kreis, den Bäck hat später nicht weit vom Wirt der Schlag getroffen, dann wurde es stiller in Kreuth, und in der letzten Zeit drohte alles zu verflattern wie draußen in Rottach.

Nun aber haben zwei gute Kreutherer, der Herr Herzog und Sanitätsrat Dr. May, die alte Geselligkeit zum Sammeln geblasen. In der Hütte am Gernberg hinterm „Bad“ hat sich die grüne Gilde angesessen, und Dr. W. May hatte sich mit schönem Erfolg bemüht, die alte bayrische Freude am festtägigen Vergnügen im edelsten Sinne aufzubelzen. Nun aber kam nach festlichen und fröhlichen Stunden, eine traurige Fahrt, noch nie hab ich den Tegernsee, meinen See, so grau und glanzlos und so höllenschlundähnlich schwarz gesehen. Ich weiß wohl, warum...

von Hans Maier aus der Zeitschrift „Bayerische Heimat“